waltraud900 im Interview

waltraud900 ist ein Künstlerinnen-Kollektiv, bestehend aus der Choreografin und Tänzerin Phaedra Pisimisi, der Performerin und Regisseurin Bianca Künzel, der Ausstatterin Ria Papadopoulou und der Dramaturgin Dorle Trachternach, unterstützt von der Autorin Matin Soofipour Omam. Seit 2012 arbeiten sie in unterschiedlichen Konstellationen und Kollaborationen miteinander, seit 2019 unter dem Namen waltraud900. In ihren Arbeiten widmen sich die Künstlerinnen zeitgenössischen Fragen nach Identität und gesellschaftlichen Zugehörigkeiten aus einer feministischen Perspektive. Am 9.12. und 10.12.2023 ist ihr Stück Grandmothers of the Future bei uns im Studio zu sehen. Grund genug für ein paar Fragen an das Kollektiv.

Es ist ein Stück über Frauen. Die Frauen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Wir geben unseren Großmüttern eine Stimme.

Wie habt ihr euch als Kollektiv gefunden und warum der Name waltraud900?

Bianca: Einige von uns haben schon in anderen Zusammenhängen zusammengearbeitet und es gab den Wunsch, unabhängig von Theaterhäusern in einem vor allem weiblichen Team zu arbeiten. Der Name entstand eher zufällig und setzt sich aus dem Namen einer unserer Großmütter zusammen und der Bezeichnung eines bestimmten Raumschiffs, das schon einmal im All war.

Wie seid ihr auf die Idee zu dem Stück gekommen?

Bianca: Obwohl wir mit einer relativen Selbstverständlichkeit unseren Arbeitsalltag teilen, stellten wir fest, dass unsere weiblichen Herkunftsgeschichten doch sehr verschieden sind. Was uns aber eint, ist die Prägung durch unsere Großmütter.

Was können wir von »Grandmothers of the Future« erwarten?

Phaedra: Eine Reise durch die Länder und die Geschichten unserer Großmütter. Und ein fiktives Zusammenkommen der Grandmothers of the Future.

Jamila: Du wirst dich danach fragen: Was für eine Oma will ich mal sein?

Bianca: Du wirst feststellen, dass andere Menschen auch krasse Großmütter haben. Dass du danach deine Großmutter anrufen wirst, wenn sie noch am Leben ist. Dass die Großmutter der Zukunft 137 Brüste hat.

Welche Fragestellung liegt eurem Stück zugrunde?

Bianca: Wie bist du die Frau geworden, die mir heute gegenübersitzt.

Phaedra: Wie wollen wir als Großmüttern sein? Wer sind die Großmütter der Zukunft und wie und mit wem wollen sie leben?

Warum ist es wichtig, sich mit seinem kulturellen Erbe auseinanderzusetzen?

Bianca: Es ist zwar ein oft zitierter Satz, aber: Um heraus zu finden, wo du hin willst, musst du erst einmal wissen, wo du herkommst.

Ria: Weil es uns hilft, uns selbst besser zu verstehen, unsere Stärken zu erkennen und die Kraft, die in uns steckt, rauszuholen.

Phaedra: Um unsere Wahrnehmung und Reaktionen im Hier und Jetzt besser zu verstehen. Unsere unbewusste Vorstellung von der Rolle der Frau zu erkennen und zu überprüfen. Ich persönlich komme aus einer sehr patriarchischen Gesellschaft. Wenn es um das Thema Frausein geht, muss sich in der griechischen Gesellschaft noch viel ändern.

Was hat euch in der Recherchearbeit zum Stück am meisten berührt?

Jamila: Im Dezember 2019 sind wir zu Phädras Oma nach Athen gereist. Die gemeinsame Zeit mit ihr bei sich zu Hause und in ihrem Garten mit Blick aufs Meer, war unglaublich berührend. Menschen, die schon so viel Zeit auf der Erde verbracht haben, umwebt eine besondere Aura. Auch zu erleben, wie sie sich uns Frauen* geöffnet und über Dinge gesprochen hat, die sie vielleicht noch nie so offen geteilt hat, war unglaublich besonders. Zugleich ist die Oma von einer von uns einen Tag vorher gestorben, was die Kostbarkeit von Zeit mit dieser Generation noch mehr hat spüren lassen.

Ria: Die Erkenntnis, dass diese Frauen es geschafft haben ihre Nöte und Schmerzen sowie unterdrückte Gefühle und unerfüllte Wünsche trotzdem in Liebe und Zuneigung für ihre Familie und Umgebung zu verwandeln.

Phaedra: Die Geschichte meiner eigenen Großmutter! Durch die lange Recherchephase habe ich Informationen über ihr Leben erfahren, die ich vorher nicht gewusst habe. Oder besser gesagt, die ich nie gefragt hätte. Meine Großmutter war eine Frau wie ich. Und bis wir mit waltraud900 zu ihr kamen, hatte sie noch nie jemand gefragt, wie ihr Leben als Frau war, welche Gefühle und Wünsche sie hat. Zum Glück ist sie noch am Leben (94 Jahre alt) und ich konnte ihr all meine Fragen stellen!

Amy: Seit dem armenischen Genozid vor über hundert Jahren schafft es meine Familie nicht, in einem Land zu bleiben. Und, dass meine Oma und ich beide in Länder gezogen sind, ohne die Sprache zu können. Sie mit 54 Jahren und ich mit 24 Jahren.

Wie erarbeitet ihr eure Performances? Wie ist eure Herangehensweise?

Bianca: Wir haben mit verschiedenen Menschen gesprochen, aber den Fokus auf das eigene biografische Material gelegt. Dabei war uns wichtig bzw. haben wir versucht, dass jeweils eine Performerin zu der Großmutter einer jeweils anderen Performerin recherchiert, was natürlich aufgrund der Sprachen manchmal nicht einfach bzw. unmöglich war.

Phaedra: Recherche, Interviews, Inspiration aus unseren eigenen Biografien.

Wie feministisch ist euer Stück?

Bianca: Es war aus unterschiedlichen Gründen sehr schmerzhaft, sich mit der eigenen weiblichen Geschichte auseinander zu setzen und gleichzeitig unglaublich stärkend, dadurch universell verbunden zu sein. Auch wenn dies natürlich einen offenen Blick auf Systeme frei setzt, die Frauen einer gewissen Generation unsichtbar machen.

Ria: Es ist ein universelles Stück gemacht von Frauen für Frauen. Aus weiblicher Perspektive werden die realen Geschichten unserer Großmütter erzählt, dadurch werden unsere Großmütter sichtbar und hörbar, hoffentlich lauter als sie sich je selber getraut hätten.

Phaedra: Es ist ein Stück über Frauen. Die Frauen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Wir geben unseren Großmüttern eine Stimme.

Was würdet ihr euren Großmüttern noch einmal sagen wollen, falls ihr nicht mehr die Gelegenheit dazu habt?

Bianca: Vorne weht der Wind… jetzt weiß ich, was du meinst.

Jamila: Wie unglaublich dankbar ich bin für den Raum bedingungsloser Liebe und Schutz, den sie für mich kreiert hat. Dankbar, dass sie meine Partnerin in crime war, auch gegen meine Eltern, mich immer verteidigt oder für mich gelogen hat. Dankbar, dass sie mir ihr Herz geöffnet hat als letztes Enkelkind, nachdem sie sich nach dem frühen Tod ihres Mannes und all ihrer Familienmitglieder während des zweites Weltkriegs der Außenwelt total verschlossen hatte. Danke für unsere besondere Verbindung Oma, ich liebe dich.

Ria: Dass ich unfassbar dankbar dafür wäre, sie besser kennengelernt haben zu können und wie stolz ich auf sie bin, auf alles, was ich über sie von meiner Mutter erfahren habe. Und wie gerne ich mit ihr unser Stück zusammen anschauen würde.

Amy: Dass ich sie liebe und, dass ich sehr stolz auf sie bin.

Was wäre eine Gemeinsamkeit, die eure Großmütter eint?

Ria: Das Leben fast all unserer Großmütter war dadurch geprägt, dass die Männer in ihrem Leben, ob Väter, Brüder oder Ehemänner, für sie entschieden haben.

Phaedra: All unsere Großmütter haben mehrere Kriege erlebt.

Bianca: Humor.