Réka Kincses im Interview

Réka Kincses ist am Heimathafen Neukölln mittlerweile so etwas wie die Regisseurin des Hauses. Nach den von ihr entwickelten und inszenierten Theaterstücken Romo Sapiens, Zuhause und Madre®, folgt nun eine Stückentwicklung zum Thema weibliche Wut: Furios! Eine theatralische Entdeckungsreise durch Mythologie, Soziologie, Medizin und Kulturgeschichte und vor allem mitten durch die eigene Biografie. Premiere ist am 28.1.2023 im Saal des Heimathafen Neukölln.

Ich möchte mich für die Menschenrechte der Wut einsetzen. Sie ist nicht immer salonfähig, aber fast immer bühnenreif.

Wie bist du auf die Idee zu dem Stück gekommen?

Wut ist ein Gefühl, das gesellschaftlich nicht gut ankommt. Das habe ich schon in meiner Kindheit und Jugend erfahren. Jesper Juul schreibt in seinem Buch »Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist« Wut sei ein diskriminiertes Gefühl. Genau darum geht es mir.

Alle anderen Gefühle sind salonfähig und akzeptiert. Man darf Angst haben, man darf sich freuen, man darf traurig sein. Aber wütend darf man nicht sein. Das ist schon bei den Kindern so: wenn sie wütend werden, versucht man das zu unterbinden.
Warum hat die Wut weniger Menschenrechte als alle anderen Gefühle? Ich möchte mich für die Menschenrechte der Wut einsetzen. Sie ist nicht immer salonfähig, aber fast immer bühnenreif.

Warum ist es wichtig, sich mit weiblicher Wut zu beschäftigen?

Wut ist für alle Menschen ein schwieriges Gefühl. Sie ist nicht salonfähig und generell in der Gesellschaft verpönt. Aber der Umgang mit weiblicher Wut hat eine lange Historie und lässt sich in der Kulturgeschichte zurückverfolgen. Der Umgang mit weiblicher Wut ist unglaublich kompliziert und problematisch. Das wollte ich gerne erforschen und recherchieren. Die Diagnose Hysterie wurde beispielsweise als rein weiblich definiert. Und schon im Mittelalter wurde Unzufriedenheit von Frauen in unserem europäischen Kulturkreis als organisches Übel, als eine Krankheit definiert, die man behandeln sollte. Die weibliche Wut wurde noch viel mehr verfolgt als die männliche.

Warum hat Wut zu Unrecht so einen schlechten Ruf?

Wut hat so einen schlechten Ruf, weil wir sie nicht gut kennen. Wir haben Angst vor dem Kontrollverlust, der oft mit Wut einhergeht. Wut bringt uns dazu, Dinge zu sagen oder Dinge zu tun, die wir gerne nicht gesagt oder nicht getan hätten.
Es gibt wenige Menschen, die die hohe Kunst beherrschen, Wut konstruktiv und kreativ einzusetzen. Wir haben keine Beispiele dafür, und deswegen hat sie so ein mysteriöses, beängstigendes Dasein in unseren Köpfen.

Ist weibliche Wut eine Generationsfrage?

Wut ist ein kulturelles Konstrukt. Deshalb hängt der Umgang mit Wut immer auch mit der Zeit und mit der Gesellschaft und der Kultur, in der wir leben, zusammen. Es gab immer sehr unterschiedliche Arten und Weisen wie Wut bewertet wurde oder wie man mit Wut umging. Es gibt keine objektive, keine göttliche, richtige Einstellung dazu. Wir müssen uns fragen: was wäre gesund und konstruktiv?

Braucht es (kollektive) Wut, um Wandel auszulösen?

Es gibt natürlich unterschiedliche Definitionen von Wut. Vereinfacht könnte man es vielleicht so sagen: Wut ist die stärkste Form der Aggression. Und Aggression ist eigentlich eine Hinbewegung auf etwas zu; Aggression ist eine Handlungsrichtung. Das hat noch nichts mit Destruktion zu tun! Es geht erstmal nur darum, irgendwas zu tun, irgendwas zu verändern, irgendwas zu bereinigen, irgendwas in die Hand zu nehmen, aktiv zu werden, in Kontakt zu gehen. Aggression kann auch ein klares, zielstrebiges Kontaktangebot sein.

Furios! ist eine Stückentwicklung – heißt das, du musst als Regisseurin Kontrolle abgeben? Welche Vor- bzw. Nachteile ergeben sich aus diesem Ansatz?

In der Stückentwicklung gibt es lange Phasen, in denen man sich eigentlich in vollkommener Dunkelheit befindet, mitten im Wald, und man geht immer nur den nächsten Schritt. Da kommt die nächste Idee, der nächste Impuls! Aber man hat keinen Überblick. Das muss man gut aushalten können, weil das ein total wichtiger Teil der Arbeit ist.
Dann wechselt man irgendwann in einen anderen Bewusstseinszustand, in dem man das Material ordnet und sortiert und eben den Überblick bekommt. Aber dann muss man wieder zurück wechseln in die Unsicherheit und das Experiment.
Dieses Hin und Her ist eigentlich der Schlüssel zu jeder Art von kreativer Arbeit. Aber in der Stückentwicklung muss man die Phasen der Ungewissheit noch besser aushalten können, und ich kann das ganz gut, ich weiß auch nicht, wieso. Mir macht es sogar Spaß, nicht zu wissen, was der nächste Schritt ist. Und einfach abzuwarten, dass der nächste Impuls kommt. Das finde ich eigentlich die spannendsten Momente in jeder kreativen Arbeit.

Was können wir von Furios! erwarten?

Also im besten Falle – außer dass ich hoffe, dass es unterhalten wird und Spaß machen wird – werden wir vielleicht ein ganz kleines bisschen mehr Licht in die Dunkelheit dessen bringen, was es mit unserem Ärger, unserer Wut und Aggression eigentlich auf sich hat. Welche Formen der Wut gibt es? Wo leben wir sie, ohne uns das bewusst zu machen? Wie können wir damit umgehen?
Ich möchte ein Stückchen Bewusstheit schaffen über diese Kraft, die sehr wertvoll ist.
Wut ist ein diskriminiertes Gefühl. Wir möchten der Wut ihre Menschenrechte zurückgeben. Sie ist nämlich ein menschliches Gefühl; sie ist Teil von uns.

Wann warst du zuletzt richtig wütend? Hat sich deine persönliche Wut über die Jahre verändert bzw. der Umgang damit?

Heute?
Ich bin häufig wütend. Deshalb ist das auch ein Thema für mich. Mit Wut gut umzugehen erlebe ich als einen lebenslangen Lernprozess. Vielleicht ist es das, was mich dazu bewegt, darüber zu sprechen, darüber ein Stück zu machen, weil ich merke, dass das für viele Menschen ein Problem ist: wie können wir mit Wut gut umgehen?
Ich finde wir können uns der Aggression, der Wut auch mal liebevoll widmen, sie kennenlernen und sie integrieren. Dann haben wir vielleicht auch insgesamt eine viel entspanntere Öffentlichkeit, eine bessere Welt. Vielleicht haben wir dann auch weniger Kriege.

Wie würde der optimale Umgang mit Wut aussehen?

Das sind genau Fragen, mit denen wir uns auch in den Proben beschäftigen. Eine unserer Figuren ist Kali, gespielt von Mina Sağdıç. Sie ist die einzig wirklich bekannte Göttin, die explizit für die weibliche Wut steht. In einer Improvisation hat sie es auf den Punkt gebracht: sich selbst und den eigenen Gefühlen vertrauen; Kommunikation ohne Angst vor Konsequenzen; keine Angst vor dem Neuen.
Der Mut zur Wahrheit spielt hier eine Schlüsselrolle, denn Wahrheit wird oft als Aggression empfunden. Doch Aggression muss überhaupt nicht schlimm sein. Aggression ist genau das, was auch Illusionen zerstören kann, was auch der Wahrheit zu ihrem Recht verhilft. Ich kann dir genau sagen, wie ich es sehe, wie ich es empfinde, und zwar nicht mit der Absicht, dich zu verletzen oder zu schützen, sondern mit der Absicht, einfach die Wahrheit zu sagen. Ohne Aggressionen könnten wir das alles überhaupt nicht schaffen, dann würden wir nur ein Leben lang um den heißen Brei herumreden.